Gesundheit

Nein zur Stigmatisierung psychischer Erkrankungen

Narzisst:in. Psychopath:in. Verrückte:r. Viel zu oft verwenden wir psychische Erkrankungen im Sprachgebrauch, ohne zu wissen, was sie wirklich bedeuten.

Psychopath. Narzisst. Soziopath. Verrückt. Jeder scheint mittlerweile zum Hobby-Psychiater geworden zu sein und diagnostiziert munter seinen Mitmenschen psychische Erkrankungen oder Verhaltensstörungen. Warum das Bagatellisieren, Stigmatisieren und laienhafte Diagnostizieren von psychischen Erkrankungen endlich aufhören muss.

Die umgangsprachliche Verharmlosung psychischer Erkrankungen ist schädlich für all diejenigen, wie wirklich an Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie und so weiter leiden.

Ich wollte heute eigentlich einen Text zu einem ganz anderen Thema schreiben, aber dann ist am Dienstag ein Betrunkener mit seinem SUV durch Trier gefahren und hat dabei fünf Menschen umgebracht. Der Grund, warum mich diese abscheuliche Tat dazu bringt, einen Text über die Stigmatisierung und Bagatellisierung psychischer Krankheiten zu schreiben? Weil es keinen Tag gedauert hat, bis in den Medien schon wieder von einer „psychischen Erkrankung“ des Täters die Rede ist. Je nach Qualität des Mediums mit oder ohne das spekulative „womöglich“ davor. Und es macht mich einfach wütend, wie beiläufig diese Bezeichnung verwendet wird und wie wenig Bewusstsein dafür herrscht, was das mit Menschen macht, die wirklich und nachweislich unter einer psychischen Erkrankung leiden.

Psychisch krank ist nicht das Gleiche wie verrückt

Es hat sich seit Jahren immer mehr etabliert, irrationales Verhalten – vor allem in Zusammenhang mit Gewalt oder Grausamkeit – mit Worten wie “verrückt” oder “wahnsinnig” zu betiteln. Denn verrückt und wahnsinnig, das sind für uns Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Gleichzeitig bagatellisieren wir dann aber auch Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, in dem wir Dinge sagen wie: “Ich bin heute so depressiv”, wenn unsere Stimmung etwas gedrückt ist oder wir einen schlechten Tag haben und sprechen davon, dass wir “panisch” zum Supermarkt gerannt sind, weil die Butter alle war. Beides ist nicht nur unsensibel, es ist auch im höchsten Maße verletzend für Menschen, die wirklich mit psychischen Erkrankungen kämpfen.

Ja, ich weiß – als Außenstehender fällt es schwer sich vorzustellen, wie jemand so sehr von Trauer und Angst belastet ist, dass er es nicht schafft, das Bett zu verlassen. Oder wie jemand so viel Angst vor der Außenwelt hat, dass er seine eigene Wohnung nicht mehr verlassen kann. Jemand der diese Art von Schmerz und diese Art von Angst noch nie erlebt hat, dem erscheint das übertrieben. Aber “sich zusammenreißen”, “positiv denken” oder “einfach nicht daran denken” hilft da nicht mehr. Depressionen gehören nachweislich zur häufigsten Ursache für Suizid. Nur passt halt das Bild von einem depressiven Menschen nicht zu dem, was wir über psychische Krankheiten “gelernt” haben. Sie passen nicht zum Bild des durchgeknallten Psychopathen und/oder Mörder, dass uns TV-Serien, Filme oder Bücher vermittelt haben.

Wie unser Bild von psychischen Erkrankungen von der Pop Kultur geprägt ist

Psychische Erkrankungen sind vielfältig und kompliziert – und gerade deswegen werden sie in der Pop Kultur vereinfacht dargestellt. Nicht immer, aber immer dann, wenn es um “leichte” Unterhaltung geht, bei der die Krankheit nicht im Vordergrund steht. Batmans bekanntester Widersacher ist ein Psychopath – der Joker, zusammen mit seiner ähnlich durchgeknallten Freundin Harley Quinn. Jack Nicholson hat sogar neben dem Joker noch einen Verrückten gespielt: Patrick McMurphy in “Einer flog übers Kuckucksnest”. Weitere bekannte Beispiele für psychopathische und soziopathische Mörder in Filmen oder TV-Serien: Norman Bates in “Psycho” und der Serie “Bates Motel”. Patrick Bateman in “American Psycho”. John Doe in “Sieben”. Oder auch aktuellere Beispiele wie Joe Goldberg in “You – Du wirst mich lieben” oder Dexter Morgan in der titelgebenden Serie “Dexter”.

Dabei liegt die Häufigkeit von Schizophrenie, wahnhafte Störungen oder auch Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus im Gesamtspektrum der psychischen Erkrankungen meist bei unter 1 bis 3 %. Lediglich soziopathische Störungen treten mit etwa 4-5% auf, aber auch hier gilt: Nicht jeder Mensch mit einer soziopathischen Störung ist auch sofort ein mordender Dexter. Aber dass, was wir über Medien und Pop Kultur lernen, formt ein Bild über psychische Erkrankungen und auch über Klinikeinrichtungen wie Psychiatrien. Wir stellen uns eine Akutpsychiatrie immer so vor wie das Arkham Asylum in Gotham: Voll mit absolut durchgeknallten Menschen, die allesamt eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Die Realität ist deutlich langweiliger.

Psychisch krank ist nicht nur, wer Wahnvorstellungen hat

Jeder, der schon mal tatsächlich eine Akut-Psychiatrie von innen gesehen hat, der weiß, dass dort zum Großteil Patienten mit Erkrankungen wie Depression, Burn-Out, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen sind. Oft auch einige ältere Patienten mit beginnender oder fortschreitender Demenz. Natürlich gibt es auch Patienten mit Schizophrenie, wahnhaften oder soziopathischen Störungen, nur eben nicht in der Häufigkeit, wie wir das aus der Pop Kultur kennen. Wie gesagt, diese Erkrankungen kommen deutlich seltener vor, als man denkt. Zur Übersicht hier mal eine kleine Aufstellung zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen nach Anteil an der Gesamtbevölkerung:

  • Angststörungen (Panikstörung, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) : 10,3% (Quelle)
  • Depression: 8,2% (Quelle)
  • Bipolare affektive Störungen: 5% (Quelle)
  • Soziopathische Störungen: Etwa 4-5% (Quelle)
  • Essstörungen (z.B. Anorexie (Magersucht), Bulimie, Binge-Eating): 2-3% (Quelle)
  • Zwangsstörungen: Circa 2-3% (Quelle)
  • Narzisstische Persönlichkeitsstörung: 0,5 – 2,5% (Quelle)
  • Alkoholismus (als Teil der Suchterkrankungen): 2,4% (Quelle)
  • Borderline Persönlichkeitsstörung: 1-2% (Quelle)
  • Schizophrenie: 1% (Quelle)
  • Wahnhafte Störung ohne Schizophrenie: Liegt im Bereich unter 1% (Quelle)

Man sieht also schon recht deutlich: Bei dem Großteil dieser psychischen Erkrankungen ist das Potential für Selbstverletzung deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in ein Auto setzen und wahllos Menschen überfahren. Leider stellt man mit der Bezeichnung „psychisch krank“ aber einfach mal alle Erkrankungen auf die gleiche Stufe, denn: Jemand der unter Depressionen leidet, mit Magersucht kämpft, aufgrund einer Angststörung nicht mehr im Supermarkt einkaufen gehen kann, sich 100 Mal am Tag die Hände wäscht oder regelmäßig mit einer Rasierklinge die Haut am Körper aufritzt, ist nun mal „psychisch krank“. Insofern, als das er/sie an einer psychischen Erkrankung leidet.

Hört endlich auf, psychische Erkrankungen zu stigmatisieren

Jedes Mal wenn über eine psychische Erkrankung bei einem Massenmörder, Amokläufer, Terrorist und so weiter spekuliert wird, stellt man diese Menschen auf die gleiche Stufe wie Patienten mit Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Essstörungen. Es ist einfach eine weitere Stigmatisierung, die es absolut nicht braucht. Meiner Meinung nach sollte man solche Spekulationen ganz unterlassen, solange kein psychologisches Gutachten von einem Fachmann vorliegt. Und selbst wenn die Staatsanwaltschaft in bestimmten Fällen von einer psychischen Erkrankung des/der Täters/in ausgeht: Man muss es nicht gleich in den ersten Satz der Meldung schreiben die jeder liest, sondern kann es auch einfach nur im Artikel/Beitrag erwähnen. Leider fehlt dem Großteil unserer Medien dieses Verantwortungsbewusstsein. Vielleicht auch, weil die Verfasser zu den vielen Menschen gehören, die psychische Erkrankungen einfach nicht verstehen.

Die Sache bei psychischen Erkrankungen ist die: Jemand der nicht darunter leidet, kann sie schwer bis gar nicht nachvollziehen. Das liegt daran, dass so jemand zum einen noch nie eine vergleichbare Erfahrung gemacht hat und psychische Erkrankungen zum anderen auch nicht mit Logik zu erfassen sind. Denn: Natürlich ist es völlig unlogisch, dass man Angst davor hat mit dem Aufzug zu fahren, beim Anblick einer Schlange vor der Kasse im Supermarkt die Flucht ergreift oder täglich Angst hat, an einer tödlichen Krankheit zu erkranken und zu sterben. Aber egal wie unlogisch es für jemand Außenstehenden klingt: Es ist die Realität für jemand, der unter einer Angststörung leidet.

Psychische Erkrankungen: Besser nur zuhören als Ratschläge geben

Wir Menschen neigen dazu, die Erfahrungsberichte anderer mit unseren eigenen zu vergleichen, um sie besser einordnen zu können. Wenn uns jemand erzählt, er habe sich das Bein gebrochen, dann versuchen wir das mit eigenen Verletzungen zu vergleichen, um in etwa das Schmerzlevel einschätzen zu können. Aber auch das ist eben im Grunde schon unmöglich, weil jeder Mensch ein ganz eigenes Schmerzempfinden hat. Wenn mein Opa zum Beispiel sagte: „Mein Fuß tut weh“, dann war besagter Fuß vermutlich schon schwarz und kurz vor dem Abfallen, während meine Oma schon mal den halben Tag im Bett verbrachte, weil sie sich den Zeh gestoßen hat.

Deshalb: Hört auf die Erfahrungsberichte eurer Mitmenschen zu bewerten und hört stattdessen einfach nur zu. Lasst die „gut gemeinten“ Ratschläge sein, wenn ihr keine Erfahrung damit habt, was euer Gegenüber gerade durchmacht. Vor allem aber: Hört auf, Menschen mit Depressionen oder Angststörungen ein Beachtungsbedürfnis zu unterstellen und lasst die Relativierungen. Wenn ihr einen schlechten Tag habt oder traurig seid, dann seid bitte einfach schlecht drauf oder traurig und nicht depressiv. Und lasst bitte das laienhafte Diagnostizieren eurer Mitmenschen, wenn ihr eigentlich keine Ahnung von der Materie habt.

Wie wir bei Menschen wie Donald Trump alle zu Hobby-Psyologen werden

Trump ist ein Narzisst. Trump ist ein Soziopath. Trump ist ein Psychopath. Wie oft haben wir in den letzten vier Jahren immer wieder solche Aussagen gelesen oder gehört? Ich habe aufgehört zu zählen. Bei Trump wird das Phänomen, dass uns irrationales und nicht nachvollziehbares Verhalten unserer Mitmenschen zu Hobby-Psychologen macht, am deutlichsten. Vor allem dann, wenn man sich ansieht wie jemand, der wirklich Erfahrung auf dem Gebiet hat mit Fragen nach einer Fern-Diagnostizierung von Herrn Trump umgeht.

Mary L. Trump, die Nichte von Donald Trump und eine promovierte Psychologin, brachte im Juli 2020 das Trump-Enthüllungsbuch „Zu viel und nie genug: Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf“ auf den Markt. Darin spricht sie zwar auch von Narzissmus in Bezug auf ihren Onkel, geht aber auch sofort darauf ein, dass man solche Begriffe nicht verallgemeinern dürfe. So sagte sie in einem Interview mit der Tagesschau zwar, dass Donald Trump alle Kriterien für einen Narzisst erfüllen würde, schickt aber gleich hinterher: „Es gibt einen Unterschied zu dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Narzisst. Es gibt eine Menge Leute in unserem Leben, die wir so beschreiben würden, die einfach irgendwie von sich selbst eingenommen sind, die sich aber nicht für die klinische Bezeichnung eignen würden.“

Dieser Satz ist entscheidend, denn: Nicht jeder, der sich egoistisch verhält oder selbstverherrlichend auftritt, ist automatisch ein Narzisst. Vermutlich sind die allerwenigsten dieser Leute wirklich Narzissten. Auch bei der Frage, ob Donald Trump soziopathische Tendenzen aufweist, verzichtet Mary L. Trump auf eine Ferndiagnose. In einem Interview mit dem US-Fernsehmoderator Stephen Colbert antwortet sie auf die Frage nach soziopathischen Tendenzen bei ihrem Onkel: „Donald hat so viele Pathologien und diese sind so komplex, mit so vielen Begleiterkrankungen, dass es ohne entsprechende Tests wirklich schwierig ist, zu sagen, was eigentlich los ist.“

Hört auf mit den Ferndiagnosen

Die meisten psychischen Erkrankungen und Störungen sind deutlich komplexer als: Er/sie ist häufig egoistisch, deshalb ist er/sie ein/e Narzisst/in. Er/sie verhält sich kalt und abweisend, also ist er/sie ein/e Soziopath/in. Das Gleiche gilt für irrationales Verhalten, dass wir nicht nachvollziehen können. Natürlich hat jemand, der sich besoffen in ein Auto setzt und wahllos Leute überfährt Probleme. Genauso wie Donald Trump ganz offensichtlich kein sehr empathischer Mensch ist. Aber ohne ein entsprechendes psychologisches Gutachten von einem Experten, sollte man von Ferndiagnosen absehen. Sowohl bei Donald Trump als auch bei irgendwelchen Terroranschlägen, Morden oder Amokläufen.

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