Gesundheit Leben

MODEPOLIZEI

Bedenke deine Gedanken, denn sie werden zu deinen Worten. Bedenke deine Worte, denn sie werden zu deinen Taten. Rede niemals, wirklich niemals, schlecht über dich selbst. Das klingt so leicht und so einfach, nicht wahr? Tatsächlich ist es aber so, dass uns das Gift das wir jeden Tag verspritzen nicht einmal mehr auffällt.

„Oh Gott, siehst du das auch?“ kreischt es neben meinem Ohr. Meine Freundin Nina steht am Fuß der Rolltreppe im gläsernen Shopping-Center und gestikuliert nach oben. Ich folge ihrem Blick und sehe eine Dame mit geschätzten 20 Kilo zu viel auf den Rippen oben gerade die Rolltreppe verlassen. Die Dame trägt einen hautengen Minirock, der knapp über ihrem ausladenden Hintern endet und einen ungehinderten Blick auf ihre durchaus stämmigen Beine freigibt. „Wie kann man denn nur?“ ereifert sich Nina neben mir.

Oh Gott, hast du DIE gesehen???

Es ist so einfach, jetzt mit einzustimmen. Zu lästern. Den Kopf zu schütteln. Aber die Frage ist: Wieso? Was haben diese Frau und ihre Kleidungswahl mit mir zu tun? Nichts. Genau gar nichts. Finde ich das Outfit schön? Nein. Aber ich gehe mal stark davon aus, dass die Dame es nicht angezogen hat, um mich zu beeindrucken. Daher denke ich, dass ihr meine Meinung auch völlig egal ist. Also beantworte ich Ninas Frage mit einem Schulterzucken.

Wie kann man nur???

Sie starrt mich entgeistert an. „Findest du das nicht schlimm?“ fragt sie mich. Ich zucke nochmal mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, ist mir das ziemlich egal.“ Und das stimmt, wenn ich so drüber nachdenke, ist es mir tatsächlich relativ gleichgültig. Nina nicht. Sie bekommt sich die nächsten 20 Minuten nicht mehr ein. Immer wieder geht es um das „furchtbare“ Outfit und ich frage mich, ob es bei all diesem verspritzten Gift im Grunde gar nicht um die Dame, sondern um Nina selbst geht.

Spieglein, Spieglein an der Wand…

Nina wiegt nämlich auch ein paar Kilo zu viel. Etwas, dass sie ständig unter Schlabberpullis und weiten Shirts verbergen will, während sie mindestens einmal am Tag verkündet, sie sei „viel zu fett“. Nina ist von fett weit entfernt, aber sie trägt eben Größe 42. Das geht bei H&M fast schon als Übergröße durch. Nina würde sich niemals ein figurbetontes Kleid anziehen. Oder einen kurzen Rock, weil sie sich ob ihrer fetten Oberschenkel schämt. Sie würde sich „nie so ein Kleid anziehen“ – ganz genau. Weil Nina Angst hat, dass jemand genau das mit ihr tut, was sie selbst gerade bei der unbekannten Dame macht: Sie auslachen.

…wer hasst sich mehr im ganzen Land?

Ständig beschweren wir Frauen uns, dass man uns sexualisiert. Uns auf unser Aussehen reduziert. Uns einredet, mit unserem Körper wäre etwas nicht in Ordnung. Uns sagt, wir wären nur attraktiv mit einer Tonne Farbe im Gesicht. Das wollen wir alle nicht – aber wir kaufen dennoch den Concealer gegen Augenringe, die Bauch-weg-Slips und regen uns über jeden auf, der es wagt auf die Werbelügen zu pfeifen. Ich bin weit davon entfernt, meinen Körper wirklich zu mögen – aber zumindest kann ich zugeben, dass der Lästerreflex viel mehr dem Neid geschuldet ist, als irgendwas sonst.

Dieser Dame ist es egal, was andere von ihrem Outfit halten – vermutlich findet sie es sogar wirklich schön. Und das sollten wir ihr gönnen oder nicht? Wenig später sehen wir die Dame nochmal, vor einem Buchladen. Sie steht lächelnd neben einem Mann, der auch eher wohl genährt aussieht und der seine Hand direkt auf ihrem ausladenden Hinterteil hat. Nina verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf. Ich zucke wieder mit den Schultern und gehe weiter.

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