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Geister

wald, gefroren, dezember„Also, willst du es wissen?“
Ich wusste, dass die Frage kommen würde. Seit zwei Tagen warte ich darauf und doch…ich wünschte er hätte nicht gefragt.
Stumm schüttle ich den Kopf und schaue zum Fenster hinaus.
Die Weihnachtsbeleuchtung an der Laterne gegenüber blitzt mich an und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mich auslacht. Das Mistding.
Wer braucht dieses Scheiß-Weihnachten denn überhaupt?
Eine Gruppe Menschen eilt vorbei, alle schleppen bunte Einkaufstaschen, vermutlich voll bepackt mit Weihnachtsgeschenken. Manchmal glaube ich ja, das Universum hat was gegen mich.
„Hast du überhaupt schon mal mit irgendwem über ihn geredet?“
Über IHN. Nein. Mein Hirn schafft es ja nicht einmal, seinen Namen zu formen. Nur manchmal, nachts, in meinen Träumen.
Doch das kann ich nicht sagen, also zucke ich nur mit den Schultern und betrachte weiterhin die Straße vor dem Café.
Weitere Menschen eilen vorbei. Mehr Taschen. Mehr Geschenke. Ihr Atem formt kleine weiße Wölkchen vor ihren Gesichtern.
Es ist kalt draußen, aber nicht kalt genug. Das mit der weißen Weihnacht wird wohl nichts dieses Jahr.
„Das ist nicht gut.“
Langsam drehe ich den Kopf zu ihm und schaue in seine blauen Augen. Helle Augen. Nicht so ein dunkles, strahlendes, blaues Blau wie…
„Ich kann einfach nicht“, sage ich leise, um den Gedanken nicht beenden zu müssen.
Sorge verdunkelt die hellen Augen. Sorge und ein Spur Angst.
Ich kann ihn ja verstehen, manchmal mache ich mir auch Angst.
Seufzend schaue ich auf die halbleere Cappuccino-Tasse vor mir. „Das alles…es…er…das war ein anderes Leben.“
Eines in dem ich noch gelebt habe.
„Das stimmt nicht.“
Ein Stich, kurz und schmerzhaft in meiner Magengegend. Ich schließe kurz die Augen.
„Doch.“
„Niemand hält dich davon ab…“
Zornig hebe ich den Kopf. „Ich WEIß! Glaubst du ich weiß das nicht?“
Die Frau am Tisch vor uns dreht sich um und wirft mir einen irritierten Blick zu.
„Aber warum…“
„Weil ich es nicht kann“, unterbreche ihn, ruhiger dieses Mal. Schreien bringt ja nichts. „Ich hatte so viele Chancen. So viele Möglichkeiten und alles was ich getan habe ist warten. Zu lange und viel zu oft. Und irgendwann war es zu spät.“
Ich atme tief durch.
„Ich bin nicht mehr da, verstehst du? Was hier sitzt, ist ein lächerlicher Rest und nicht mehr. Eine Schauspielerin, die seit Jahren einen halbwegs gesunden Menschen darstellt. Aber ich…ICH…bin schon lange nicht mehr da.“
Er runzelt die Stirn. „Und wo bist du?“
„Weg“, antworte ich leise und blicke wieder zum Fenster.
Gefangen. In einer Geschichte ohne Anfang und ohne Ende. In einem anderen Leben, einer anderen Zeit. Ohne Sinn und ohne Antrieb.
Schweigen.
„Ich habe ihn gefragt, weißt du?“
Mein Kopf ruckt herum. „Was?“
„Dasselbe wie dich. Ich habe Adam…“
Ich schließe für einen Moment die Augen.
„…gefragt, ob er darüber reden will. Tatsächlich frage ich ihn das jedes Mal wenn wir uns sehen. Und weißt du, was er geantwortet hat?“
Ich kann nicht mehr sprechen, also schaue ich ihn nur stumm an.
„Das er einfach nicht darüber reden kann.“
Ich schlucke.
„Das er das Gefühl hat, langsam aber sicher zu verschwinden und das er nur noch der Darsteller einer Person ist, die es schon lange nicht mehr gibt.“ Er lacht kurz und trocken.
„Und weißt du was?“ fragt er dann mit einem resignierten Gesichtsausdruck.
Ich kann nicht mal mehr den Kopf schütteln. Es fühlt sich an als hätte mich jemand in einen Block Eis verwandelt. Kaltes, stechendes, brennendes Eis.
„Er macht es genauso schlecht wie du.“

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