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Gefallene Engel – 1

Kit war immer schon seltsam. Nicht, weil sie sich irgendwie auffällig kleidete oder komisch aussah. Im Gegenteil, sie sah völlig normal aus, ein wenig blass vielleicht und etwas zu dünn, aber nicht seltsam. Ihr schmales Gesicht wurde umrahmt von mittellangen rot-braunen Haaren, die ständig ihre blauen Augen verdeckten, ihre Art, den Rest der Welt auszuschließen. Sie trug nichts wirklich modisches, meistens nur Jeans und T-Shirt, darüber einen abgenutzten Parker. Nichts, was einem ins Auge gestochen wäre, nichts, dass sie besonders gemacht hätte. Doch Kit war seltsam.

Sie redete wenig, denn sie hatte schnell herausgefunden, dass die meisten Leute nicht gerne über etwas anderes als Belanglosigkeiten redeten. Über das Wetter, über die Schule oder die Nachrichten. Und wenn sie über etwas anderes redeten, dann erzählten sie sich meistens irgendwelche Lügen. Wem ging es schon immer gut? Wer fand schon alles klasse, was der andere tat? Und wieso sollte man seine wahren Gefühle darlegen, wenn eine Lüge soviel einfacher war? Kit hatte schnell begriffen, dass niemand sich für die Wahrheit interessierte, wenn man eine Lüge erzählen konnte. Ebenso wie sie begriff, dass sie nicht lügen wollte. Also sagte sie lieber gar nichts.

Früher einmal war die Welt einfacher gewesen. Als sie noch ein Kind war, hatte die Welt noch nicht so unwirklich geschienen. Damals gab es soviel Freude, Lachen und Glück. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie das letzte Mal gelacht hatte. Ihre Welt stürzte ein, als ein Betrunkener einfach über die rote Ampel fuhr. Er zerstörte nicht nur ihre heile Welt, er zerstörte nicht nur sich, er zerstörte auch die beiden Personen, die ihre Welt bedeuteten. Sie verloren ihr Leben, während Kit ihren Glauben verlor und von dort aus direkt in die Abgründe der Hölle stürzte.

Ein neues Land, so kalt und unfreundlich, in dem jeder nur wie eine Maschine zu funktionieren schien. Nichts Falsches sagen, nicht anderer Meinung sein, nicht selber denken, sondern immer nur tun was man dir sagt. Mit dem Strom laufen und niemals zurückblicken. Lächeln, selbst es einen umbringt, niemals hinterfragen was man als Wahrheit vorgehalten bekommt.

„Du bist nichts wert. Du bekommst nichts geschenkt. Du willst doch wohl nicht enden wie deine Mutter oder?“ So sprach der Teufel.

Der Teufel, der sie und ihre Geschwister zu sich geholt hatte. Der Teufel, getarnt als Bruder ihrer Mutter. Er nahm ihr alles. Ihren Namen, ihre Hoffnung, ihre Schwester.

„Skylar? Was ist das denn für ein Name? Du brauchst einen deutschen Namen. Sybille. Ja das klingt ordentlich und nicht so ein stumpfsinniger Name. Das ist so typisch für deine Mutter, sie hat sich stets irgendwelche Luftschlösser gebaut. Man sieht ja wohin das letzten Endes geführt hat.“

Doch es war nicht das, was sie so wütend machte. Nicht die Tatsache, dass er es tat, sondern dass sie es zuließ. Sie ließ alles geschehen, sah einfach nur zu, wie er ihr Leben zerstörte. Wie er aus ihr eine Puppe machte und ihr alles wegnahm, dass sie liebte. Als würde sie schlafwandeln und betrachte alles durch die Verschwommenheit eines Traums.

„Ein seltsames Kind, unheimlich. Sie spricht nicht, sie sitzt einfach nur da und starrt durch einen hindurch.“

Solche Worte machten ihn wütend. Doch mochte er auch noch so viel schreien und toben, mochte er sie mit Worten verletzen und verspotten, sie wachte nicht auf. Bis er eines Nachts die Grenze überschritt und zuschlug. In diesem Moment kehrte sie endlich zurück.

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