Leben bedeutet Veränderung. Immer. Wer sich gegen die Veränderung sträubt, die/der sträubt sich auch gegen das Leben. Und doch: Manches verändert sich scheinbar nicht oder nur zu wenig – bis du deine Sicht darauf veränderst und plötzlich alles in einem völlig anderen Licht erscheint.
Warum erlebe ich die Welt so anders?
Ich hatte schon mein ganzes Leben lang immer das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt. Das etwas an dem wie ich bin, wie ich denke und wie ich fühle sich fundamental vom Erleben, Denken und Fühlen meiner Umwelt unterscheidet. Ich habe darüber auf diesem Blog auch schon mehrmals geschrieben, stets mit der offenen Frage: Was kann ich verändern, um diese Mauer zwischen mir und meinem Umfeld zu durchbrechen. Bisher wusste ich nie eine Antwort darauf, doch jetzt weiß ich, dass es gar keine Antwort gibt, denn ich habe die falsche Frage gestellt.
Das zappelige und anstrengende Kind
Als ich etwa neun Jahre alt war, ging meine Mutter mit mir zu einem Kinderpsychiater. Der Grund: Ich hatte in der Schule massive Probleme mich auf den Unterricht zu konzentrieren oder still zu sitzen. Lieber träumte ich mit offenen Augen zum Fenster hinaus oder zappelte so sehr herum, dass ich samt Stuhl umkippte. Der Psychiater diagnostizierte damals bei mir Legasthenie, eine Störung der Feinfühlmotorik und Hyperaktivität. Als Folge daraus musste ich in eine Ergotherapie und meine Mutter sollte mit mir zusätzlich Lese- und Schreibübungen machen. Das war Anfang der 90iger Jahre, als noch niemand Begriffe wie ADHS nutzte oder jedem etwas zappligeren Kind Ritalin verabreichte.
Die Erwachsene, die mit ihren Gefühlen überfordert ist
20 Jahre später landete ich wieder bei einem Psychiater, weil ich massive Probleme mit der Bewältigung meiner Gefühle hatte. Damals ging es um eine unerwiderte Liebe und sehr viel Stress in der Arbeit, was dazu führte, dass ich nicht mehr schlafen oder essen konnte und ständig das Gefühl hatte, ich müsste mich irgendwie bewegen. Für mich waren Gefühle immer schwierig, denn ich habe grundsätzlich nur drei Modi: Entweder mag (oder liebe) ich die Person so sehr, dass es wenig gibt, was ich nicht für sie tun würde oder ich verabscheue sie leidenschaftlich oder sie ist mir vollkommen gleichgültig. Meine Gefühle kennen keine Abstufungen und kein „langsam“. Das macht bereits Freundschaften schwierig und Liebesbeziehungen noch viel mehr.
Besagter Psychiater hörte sich meine Geschichte an, stellte mir viele Fragen und erklärte mir dann, dass er gerne eine Reihe Tests machen würde. Die Diagnose war dieses Mal eindeutig: ADHS. Seine Empfehlung: Medikamente. Ich habe das damals abgelehnt und mich irgendwie durch meine chaotische Gefühlswelt durchgebissen. Kurz darauf folgte ein Jobwechsel inklusive Umzug und all die Probleme, die sich vorher immer mehr bemerkbar gemacht hatten, wurden schlimmer und schlimmer.
ADHS: Was ist das eigentlich?
Es brauchte drei depressive Phasen, zwei Krankenhausaufenthalte und fast drei Jahre Therapie, bis ich mir das Thema ADHS noch einmal anschaute. Richtig anschaute dieses Mal – und plötzlich das Gefühl hatte, als hätte mir endlich jemand die Welt erklärt. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und ist mehr als nur eine Konzentrationsschwäche oder Zappeligkeit. Es bedeutet eine ganze Bandbreite von Symptomen, zu denen unter anderem Probleme mit der Regulation von Gefühlen gehören. Meine Stimmungsschwankungen, mein „zu viel“ Fühlen, meine hohe Sensibilität – all das gehört in diese Kategorie. Weitere Symptome von ADHS sind:
- Desorganisation
- Stressintoleranz
- Gestörtes Sozialverhalten
- Selbstwertproblematik
Entgegen der weitläufig verbreiteten Meinung wächst sich ADHS auch nicht immer im Erwachsenalter aus. Vor allem dann nicht, wenn man wie ich die Symptome konsequent zu ignorieren versucht und sich stets bemüht, endlich anders zu sein. Endlich so zu sein wie der Rest. Dazuzugehören. Und daran immer und immer wieder scheitert. Depressionen und Angststörungen sind oft bei Erwachsenen eine Begleiterscheinung von ADHS – besonders fies dabei: Selbst Psychiater und Psychotherapeuten erkennen oft die Symptome nicht und behandeln stattdessen eben die Depression oder die Angststörung, aber nicht die ADHS.
Weiterführende Links zum Thema ADHS: ADHS Infoportal Zentrales ADHS Netz ADHS Deutschland e.V.
Ich darf anders sein
ADHS bedeutet aber eben vor allem eines: Anders zu sein. Anders zu fühlen. Anders zu denken. Die Welt anders zu erleben und zu interpretieren. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass mein Gehirn ein bisschen anders „funktioniert“ als das der anderen Menschen. Nicht besser oder schlechter, nur anders. Und genau dieses „anders“ ist das, was ich immer als eine Mauer erlebt habe – eine Mauer zwischen mir und dem Rest der Welt. Diese Mauer steht auch weiterhin, ich habe nur mittlerweile begriffen, dass ich sie gar nicht einreißen muss. Ich darf sie stehen lassen. Ich darf anders fühlen. Und vor allem darf ich aufhören, mich so sehr anzustrengen, jemand anderes zu sein. Denn ich bin okay, so wie ich bin.