Gesundheit Leben

ADHS und Objektpermanenz oder: die ewige Suche

Warum vergesse ich immer wieder, wo ich etwas hingestellt, hingelegt oder aufgeräumt habe? Weil ich ADHS habe und das keine Vergesslichkeit ist, sondern ein Symptom: Mangelnde Objektpermanenz.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich den größten Teil meines Lebens damit verbringe, etwas zu suchen oder etwas wiederzufinden, das ich eigentlich gar nicht gesucht habe. Das ist übrigens nicht philosophisch gemeint, sondern wörtlich – denn ich verliere nicht nur ständig etwas, sondern finde auch dauernd etwas wieder, nur leider nicht, was ich gesucht habe.

Ein Puzzle, in dem nur ein Stück fehlt und du findest es einfach nicht.
Das Leben mit ADHS fühlt sich manchmal so an, als wärst du ständig auf der Suche nach dem fehlenden Teil zu einem Puzzle, nur um dann das fehlende Teil zu einem ganz anderen Puzzle zu finden.

Ich bin gerade bestimmt zehn Minuten durch meine Wohnung gelaufen, weil ich meine Kaffeetasse nicht mehr finde. Besagte Kaffeetasse hatte ich in der Hand, als ich von der Küche zurück an meinen Schreibtisch ging. Da klingelte es an der Tür. Also habe ich – so vermute ich – die Tasse abgestellt und bin zur Tür gegangen, um ein Paket entgegenzunehmen. Danach wollte ich die Tasse nehmen und den Weg zu meinem Schreibtisch fortsetzen, nur: Jetzt ist die Tasse weg. Etwas, das in einer 2-Zimmer-Wohnung mit knapp 45 Quadratmetern eigentlich nicht möglich sein sollte – aber ich finde sie einfach nicht mehr. 

Fehlende Objektpermanenz: ein verkanntes ADHS-Symptom

Warum nur kann sich mein Gehirn nicht merken, wo ich Dinge hingelegt, hingestellt oder hingeräumt habe, die ich GERADE noch in der Hand hatte? Wie so oft lautet die Antwort auf diese Frage: ADHS. Genauer gesagt, das Symptom „mangelnde Objektpermanenz“. Der Begriff Objektpermanenz beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, sich ein Bild von einem Objekt zu machen und dieses im Gedächtnis zu behalten, auch wenn das Objekt nicht mehr wahrgenommen wird. Bei fehlender Objektpermanenz hingegen wird das Objekt sofort vergessen, wenn es aus dem Blickfeld verschwindet. 

Wer jetzt einwirft: „Ja, aber das passiert uns allen mal“, hat natürlich völlig recht. Der Unterschied ist nur: Mir passiert es nicht „einmal“, sondern ständig. Jeden Tag. Manchmal sogar mehrmals am Tag. An ganz schlechten Tagen sogar mehrmals hintereinander. Ganz grundsätzlich stellt mich das Thema Objektpermanenz vor zwei Probleme: Erstens Multitasking, etwas, das mein Gehirn nicht kann, und zweitens die Erinnerung an Gegenstände, auch wenn ich sie nicht mehr sehe. 

Sobald ich etwas nicht sehe, hört es auf zu existieren

In sozialen Netzwerken wie Instagram, TikTok oder YouTube gibt es viele Videos von Menschen mit ADHS, die sich mit dem Thema der mangelnden Objektpermanenz beschäftigen. Viele davon beschreiben das Phänomen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Tatsächlich ist es auch bei mir so, dass Gegenstände einfach aufhören zu existieren, wenn ich sie nicht mehr sehe. Zum Beispiel finde ich immer wieder Batterien in verschiedenen Schubladen meiner Wohnung. 

Der Grund: Ich habe einen Controller für meine Spielkonsole, der Batterien braucht. Und immer, wenn die Batterien im Controller leer sind, finde ich keine neuen. Obwohl ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiß, dass ich die Batterien erst in der Woche zuvor gekauft habe. Also kaufe ich neue Batterien, öffne zu Hause irgendeine Schublade, um sie zu verstauen, und was finde ich dort? Die vier Packungen Batterien, die ich die letzten vier Mal zuvor gekauft habe. Irgendwann werde ich in Batterien ertrinken. 

Es sind nicht nur Objekte, sondern auch Personen

Das Einzige, was noch schlimmer ist, als ständig Dinge zu verlieren oder zu vergessen, ist, die Existenz von Menschen zu vergessen. Denn es gibt nicht nur die Objektpermanenz, sondern auch die Personenpermanenz. Diese beschreibt die kognitive Fähigkeit zu wissen, dass eine Person existiert, auch wenn man sie gerade nicht sieht. Mir hingegen passiert es nicht selten, dass ich die Existenz einer Person für mehrere Monate einfach vergesse. Warum? Weil ich diese Person nicht sehe.

Das klingt hart, ich weiß. Und es macht die Pflege von Freundschaften auch nicht unbedingt einfacher, denn viele Menschen sind nicht begeistert, wenn sie ohne ersichtlichen Grund monatelang ignoriert werden. Dabei hat es überhaupt nichts damit zu tun, dass ich jemanden ignoriere… ich vergesse einfach, dass es diese Leute gibt. Versuch das mal Leuten zu erklären: „Ja hi, tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich habe für einen Moment vergessen, dass du existierst“. Eher nicht.

Fehlende Personenpermanenz und Scham

Ich habe schon einige Menschen in meinem Leben verloren, weil ich sie einfach eine Zeit lang vergessen habe. Und nicht selten war dann die Scham zu groß, mich nach so langer Zeit wieder zu melden, und irgendwann war es einfach zu lange her, also habe ich es gelassen. Es hat übrigens nichts damit zu tun, wie sehr ich jemand mag, sondern einfach, wie oft ich diese Person sehe. Und ja, ich habe auch jedes Mal ein unheimlich schlechtes Gewissen, wenn sich jemand nach einiger Zeit des Schweigens meldet, weil ich dann sofort denke: „Oh Gott, jetzt hält er oder sie mich bestimmt für eine schreckliche Freundin, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe“.

Ich hörte in der Vergangenheit auch immer wieder, dass Freund:innen das Gefühl hatten, sie seien mir gleichgültig oder sie würden mich nerven. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist einfach so, dass mein Gehirn sowohl Gegenstände als auch Menschen vergisst, wenn es sie nicht sieht. Oder länger nicht sieht. Oder eben noch in der Hand hatte (ja, da sind wir wieder bei der blöden Kaffeetasse).

Was tun gegen fehlende Objektpermanenz oder fehlende Personenpermanenz?

Ich habe in verschiedenen Videos und Foren ein paar Tricks gefunden, die uns ADHSlern dabei helfen sollen, uns zu merken, wo wir Gegenstände hingelegt haben. Nur wie bei allen ADHS-Tipps gilt leider auch hier: Es funktioniert nur, wenn du sie regelmäßig anwendest. Mein persönlicher Tipp deshalb: Versuche nicht gleich alle auf einmal, sondern starte erst mit einem und wenn der klappt, dann mach dich an den nächsten.  

#Tipp 1: Offene Regale oder Kleiderschränke

Den Tipp setze ich tatsächlich schon selbst um, zumindest im Schlafzimmer. Ich habe nämlich die durchaus lästige Angewohnheit, immer zu glauben, ich hätte nichts Passendes anzuziehen und kaufe mir dann teilweise Shirts doppelt (öfter, als ich zugeben will). Ein offener Kleiderschrank, bei dem du die Sachen siehst, hilft mir da tatsächlich – auch wenn das Konzept am Anfang gewöhnungsbedürftig war. Ein weiterer Vorteil: Dadurch das du die Gegenstände auch wirklich siehst, kannst du sie auch einfacher finden.

#Tipp2: Beschrifte deine Türen oder Schubladen

Okay hier muss ich zugeben: Ich habe zumindest damit angefangen. Die Idee mag erst einmal etwas albern klingen, soll aber tatsächlich helfen: Wenn du Gegenstände hinter einer Schranktür, in einer Schublade oder einer Box verstaust, dann beschrifte diese mit dem Inhalt. Mein Fortschritt bei der Beschriftung begrenzt sich derzeit auf eine Box und einen Zettel an einer Schranktür. Immerhin finde ich aber seitdem die Gegenstände darin – meine Schals und meine Teelichter samt Duftölen – problemlos. Vielleicht sollte ich das Projekt Beschriftung mal wieder angehen…

#Tipp 3: Wähle immer dieselbe Ablage

Den Tipp habe ich mir schon vor Jahren bei meiner Mutter abgeschaut: Einen festen Platz für den Haustürschlüssel wählen. Damit reduzierst du das Risiko, ihn zu verlieren enorm. Bei mir steckt er zum Beispiel immer (also zu 90 Prozent) entweder im Schlüsselloch der Haustür (innen) oder er liegt auf meinem Schuhregal. Ähnlich ist es mit meinem Handy, das hat auch drei (semi-) feste Plätze: Entweder liegt es neben dem Router, auf dem Schreibtisch oder auf dem Couchtisch. Seit ich diese Regel anwende, habe ich es nicht mehr im Gefrierschrank gefunden (nein, ich weiß nicht, wieso es dort gelandet ist).

#Tipp 4: Rede mit den Menschen, die wichtig sind

Das ist für mich persönlich am schwierigsten, weil ich seit über 30 Jahren darauf konditioniert bin, meine Neurodiversität zu verstecken. Wenn du oft und lange genug zu hören bekommst, dass deine Erfahrungen oder deine Art zu denken „seltsam“ sind, wird das irgendwann zur zweiten Natur. Tatsächlich ist es aber hilfreich, über deine Symptome zu sprechen, weil die Leute dann besser verstehen, warum du dich zum Beispiel längere Zeit nicht meldest oder zu spät kommst, weil du mal wieder deine Brieftasche / Schlüssel / Handy etc. verlegt hast.

Du musst deine Diagnose nicht allen Menschen in deinem Umfeld mitteilen – gerade im Arbeitsumfeld kann das sogar kritisch sein. Aber zumindest den Leuten, die wichtig sind. Ich habe inzwischen sogar angefangen, mit einigen meiner Kolleginnen und Kollegen über mein ADHS zu sprechen – und über die Auswirkungen. Eine Kollegin meinte sogar, dass sie seitdem vieles, was ich mache oder sage, besser versteht.

Fazit: Reden und improvisieren

Die schlechte Nachricht bei ADHS ist: Du kannst deine Symptome nie ganz loswerden, weil dein Gehirn nie so funktionieren wird wie das von neurotypischen Menschen. ABER: Die Symptome zu kennen und zu wissen, was dahinter steckt, kann dir helfen, dein Gehirn zu „überlisten“. Für mich habe ich festgestellt: Je gelassener ich an die Herausforderungen des Alltags herangehe, desto besser kann ich damit umgehen. Natürlich nicht immer, aber immer öfter.

Die Kaffeetasse habe ich übrigens wiedergefunden – allerdings erst, nachdem ich die Suche aufgegeben und mir einen neuen Kaffee gekocht hatte. Die verlorene Tasse stand im Bücherregal, wo sonst 😊 .

Diese Artikel könnten dich ebenfalls interessieren:

ADHS und das (Über-)Leben in einer neurotypischen Welt

ADHS: Selbstwert und Fremdwahrnehmung

ADHS oder: Wie ich die Welt verstanden habe

Kommentar verfassen

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner
%d Bloggern gefällt das: