„Als du letztens in der Küche gelacht hast, habe ich im Vorraum mein eigenes Wort nicht mehr verstanden.“ Der Satz kam kürzlich von einer Kollegin, war natürlich nicht böse gemeint und hat trotzdem eine Wunde aufgerissen, die nie ganz verheilt ist. Mein ganzes Leben schon höre ich, dass ich „falsch“ bin. Entweder zu laut oder zu leise, zu anstrengend oder zu faul, zu empfindlich oder nicht einfühlsam genug, zu viel oder zu wenig … einfach immer die, die nicht dazu passt. Mittlerweile weiß ich, dass ich mit dieser Erfahrung nicht alleine bin.
Neurodiversität – was ist das?
Als neurotypisch werden all jene Menschen beschrieben, deren Denkweise und Informationsverarbeitung so abläuft, wie es in ihrer jeweiligen Kultur als typisch angesehen wird. In der Regel lernen diese Menschen in ähnlich schnellem Tempo und erreichen Meilensteine in der Entwicklung in ähnlich schnellem Tempo wie ihre Altersgenossen. Im Kontrast dazu beschreibt der Begriff „neurodivergent“ oder „neurodivers“ eben Menschen, die Informationen anders verarbeiten. Mittlerweile identifizieren sich vor allem Autistinnen und Autisten, Hochsensible oder eben Menschen mit AD(H)S. So beschreibt Zawn Villines den Unterschied in einem Artikel in den Medical News Today.
Wer wie ich erst mit weit über 30 die Diagnose ADHS bekommen hat, hat nie gelernt, dass es dir nicht nur so vorkommt, als wärst du anders. Du BIST faktisch anders. Unsere Gesellschaft ist auf neurotypische Menschen und ihre Denk- und Verhaltensweisen ausgelegt und zugeschnitten. Nur wie beschrieben, ist es schlicht so, dass neurodiverse Menschen andere Denkmuster haben, Informationen anders verarbeiten und wir uns dementsprechend auch anders verhalten als unser neurotypisches Umfeld. Was dieses wiederum oft mit Unverständnis wahrnimmt und entsprechend kommentiert.
Anders bedeutet weder besser noch schlechter
Der Grund, warum all die Ratgeber über (Selbst-)Organisation, Planung, Lernen, Selbstoptimierung oder Selbstmotivation nie sonderlich viel gebracht haben, ist recht simpel: Sie waren nicht für jemand wie mich geschrieben. Ich bin weder zu faul, noch suche ich Ausreden, noch fehlt mir das richtige „Mindset“ – dass ein Fisch nie so gut klettern wird wie ein Affe, liegt nicht an der mangelnden Motivation. Umgekehrt kann der Affe nämlich nicht annähernd so gut schwimmen. Diese simple Erkenntnis hat tatsächlich vor ein paar Monaten mein Leben verändert.
„Ein Fisch wird niemals so gut klettern können wie ein Affe, egal wie motiviert er ist.
Umgekehrt wird ein Affe auch bei höchster Motivation niemals auch nur annähernd so gut schwimmen wie ein Fisch.“
Die Tatsache, dass mein Gehirn andere Denkmuster hat und Informationen anders verarbeitet, bedeutet in meinem Fall, dass ich sehr kreativ und innovativ bin. Ich sehe oft Lösungswege oder Möglichkeiten, wo andere noch nicht mal das Problem richtig erfasst haben. Andererseits habe ich keine Geduld, rede viel und gerne, verliere oder vergesse oft Dinge (manchmal auch Menschen), wirke oft abwesend und habe eine sehr geringe Toleranz gegenüber Lärm oder bestimmten Geräuschen (insbesondere Piepen) oder bestimmten Gerüchen. Und ich bin laut.
ADHS und Selbstwert
Es ist nicht so, dass ich nicht verstehe, warum ich oft das Feedback von meiner Umwelt bekommen habe, ich sei zu … was auch immer. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass mein Gerede, Gezappel oder die Tatsache, dass ich nicht lange zuhören kann, ohne innerlich abzuschalten, anstrengend sind. Vor allem dann, wenn mein Gegenüber diese Verhaltensweisen nicht nachvollziehen kann. Ich konnte es ja auch den Großteil meines Lebens nicht und habe mich immer wieder gefragt: WARUM ZUR HÖLLE BIN ICH SO? WARUM KANN ICH MICH NICHT EINFACH ZUSAMMENREIßEN? Damit habe ich letztlich das verinnerlicht, was ich über mein Umfeld mitgeteilt bekam.
Tatsächlich leiden viele Erwachsene mit ADHS unter geringem Selbstwertgefühl. Das bestätigen nicht nur meine Gespräche mit anderen, die ADHS haben, in der Selbsthilfegruppe oder online, sondern das bestätigt auch das Infoportal ADHS und im Grunde jedes Psychiatrie-Portal, dass sich mit ADHS beschäftigt. Ich bekam mein ganzes Leben schon von meinem Umfeld immer wieder die Information, dass ich „falsch“ bin. Und weil ich eben ADHS habe, konnte ich daran nie viel ändern – außer mich zu isolieren und so mein Umfeld und mich vor mir selbst zu schützen. Was natürlich weder gesund noch hilfreich war und zu neuen Problemen führte. Unter anderem mehreren Krankenhausaufenthalten wegen Depression.
ADHS lässt sich nicht heilen, aber verstehen
Erst jetzt, wo ich weiß, warum ich so bin wie ich bin und so reagiere, wie ich reagiere, kann ich mit negativem Feedback besser umgehen. Wenn mir wieder jemand sagt: „Ich vergesse auch manchmal etwas, du musst dich einfach besser konzentrieren“, dann antworte ich jetzt mit: „Ich vergesse nicht manchmal etwas, sondern jeden Tag – oftmals sogar jede Stunde. Mein Problem ist nicht mangelnde Konzentration, sondern Fokussierung auf eine Tätigkeit zu einem Zeitpunkt, statt zu versuchen 20 Gedanken, Eindrücke und Ideen gleichzeitig zu verarbeiten.“ Früher hätte ich mit den Schultern gezuckt und mich innerlich schlecht gefühlt. Mir wieder gesagt, dass ich einfach zu dumm und zu faul bin und alles Schlechte auf dieser Welt verdiene.
Und obwohl ich heute weiß, dass ich tatsächlich laut bin und daran nichts ändern kann, tut der „witzige“ Kommentar meiner Kollegin weh. Ebenso wie die Beschwichtigungen der anderen Kollegin, das hätte sie „ja nicht so gemeint“. In meinem Kopf ist nun abgespeichert: Kollegin A findet mich zu laut und von da zu. Kollegin A mag mich nicht, weil ich zu laut bin und wenn Kollegin A mich schon deshalb nicht mag, wie denken dann wohl die anderen Kolleginnen und Kollegen darüber und wie lange dauert es wohl, bis mir alle sagen, ich wäre zu laut und zu dumm und zu … genau. Das sind die Gedankengänge, die in meinem Kopf sofort anspringen und sich verselbständigen. Weil mein Gehirn Informationen anders verarbeitet und von „habe ich nicht so verstanden“ auf „ich verstehe alles falsch“ zu „was weiß ich überhaupt“ schließt. Immer noch.