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ADHS und das (Über-)Leben in einer neurotypischen Welt

ADHS bedeutet ein lebenslanges Scheitern an neurotypischen Strukturen – bis du verstehst, dass deine Neurodiversität keine Charakterschwäche und kein Nachteil ist, sondern im Gegenteil, eine Stärke sein kann.

Eine der größten Herausforderungen von ADHS sind nicht die Symptome, sondern wie dein Umfeld damit umgeht. Wir leben in einer Welt, die zum Großteil aus neurotypischen Menschen besteht und dementsprechend ausgerichtet ist. Nur versteht diese Welt nicht, dass es eben Menschen gibt, für die dieses System absolut nicht funktioniert.

Neurodiverses Gehirn in einer neurotypischen Welt
ADHS ist eine neurobiologische Störung, unser Gehirn verarbeitet Reize anders und deshalb nehmen wir die Welt auch anders wahr, als neurotypische Menschen. (Bild-Credit: Pixabay / Gerd Altmann)

ADHS oder Charakterschwäche?

Ich glaube, es gibt fast nichts, dass ich so häufig mache, wie etwas zu vergessen. Die Kaffeetasse in der Küche, einen Termin, einen Anruf zu tätigen, auf eine Nachricht zu antworten … diese Liste könnte ich vermutlich bis zur Unendlichkeit weiterführen. Alleine während ich das hier gerade schreibe, fallen mir schon wieder zehn Beispiele ein, die ich heute vergessen habe – beginnend mit dem gestrigen Versäumnis, den Wecker richtigzustellen. Mal etwas vergessen, das passiert jeder:m mal – dafür hat das Umfeld auch Verständnis. Wenn es aber zum Dauerzustand wird, reagieren viele (nicht unberechtigt) zunehmend gereizt oder sogar ärgerlich.

Früher dachte ich immer, meine Vergesslichkeit wäre im besten Fall eine Charakterschwäche, am wahrscheinlichsten aber pure Dummheit. Tatsächlich ist es aber Teil der ADHS-Symptome. AD in ADHS steht nicht umsonst für Aufmerksamkeitsdefizit – denn genau diese Aufmerksamkeitsschwäche gehört zu den Kernsymptomen von AD(H)S. Aus meiner Sicht ist „Defizit“ allerdings irreführend, denn das Problem besteht nicht darin, dass wir nicht aufmerksam wären – sondern darin, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren. Sprich: Menschen mit ADHS reagieren viel schneller auf Reize und vergessen dabei dann gerne, was wir eigentlich gerade tun (oder tun wollten).

Der Kreis aus endlosem Suchen und Dutzenden Alarmen

Dieses Fokussierungsdefizit führt dann beispielsweise dazu, dass ich 20 Minuten durch die Wohnung renne, weil ich nicht mehr weiß, wo ich meine Kaffeetasse abgestellt habe – oder dass ich es drei Tage in Folge nicht schaffe, die extra für meine Kollegin gezeichnete Geburtstagskarte mit ins Büro zu nehmen. Solche Geschichten klingen zwar lustig (sind sie oft auch), aber sie sind eben keine vereinzelten Erscheinungen. Ich verbringe gut 50 Prozent meines Tages damit, nach etwas zu suchen, dass ich gerade in der Hand hatte und habe außerdem 15 verschiedene Alarme in meinem Handy, die mich an eine Tätigkeit erinnern, die ich eigentlich täglich mache (zum Beispiel meine Medikamente einnehmen).

Hilfreiche Ratschläge, die am Ende auch nur Schläge sind

Wer selbst AD(H)S hat, hat vermutlich beim oberen Absatz zustimmend genickt und dabei an die 100 Sachen gedacht, die sie/er zuletzt gesucht oder vergessen hat. Neurotypische Menschen dagegen verstehen diese absolute Unfähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, nicht. Klar, auch neurotypische Menschen verlegen oder vergessen mal etwas – das Stichwort ist aber „mal“. Wie oft habe ich schon gehört: „Ja, dann stell dir doch einen Alarm“ – „Du musst dich einfach mal konzentrieren“ – „Schreib dir doch eine Liste“ und so weiter. Alles sinnvolle Vorschläge, die leider alle tagesabhängig nur bedingt, bis gar nicht funktionieren, wenn du ADHS hast.

Nur: Wie bei jeder psychischen oder neurologischen Störung verstehen Menschen, die sie nicht haben, auch nicht, warum „mach doch einfach XY“ nicht funktioniert. Niemand käme auf die Idee einer:m Blinden zu sagen, sie/er solle doch „sich doch einfach mal anstrengen“ – weil (hoffentlich) die meisten von uns wissen, dass so eine Aussage nicht nur Blödsinn, sondern auch hochgradig beleidigend ist. Aber: Auch wenn du selbst nicht blind bist, kannst du zumindest das Gefühl in völliger Dunkelheit (ansatzweise) nachvollziehen. Der Unterschied zu einer neurologischen Störung wie ADHS ist: Du verstehst, dass es NICHT dasselbe ist, morgens im Dunkeln zum Lichtschalter zu stolpern und sein Leben in völliger Dunkelheit zu leben.

ADHS und erhöhtes Sterberisiko

Mein Kampf mit der Fokussierung meiner Aufmerksamkeit ist aber ähnlich herausfordernd wie als Blinde:r in einer Welt zu leben, die Menschen ausgerichtet ist, die sehen können. Nur eben unsichtbarer. Wer das jetzt für übertrieben hält: Zu den Folgen der Aufmerksamkeitsstörung gehört unter anderem eine hohe Unfall- und Verletzungsgefahr. Tatsächlich ergab eine Studie des dänischen Forschers Dr. Søren Dalsgaard von der Universität Aarhus aus dem Jahr 2015, dass Menschen mit ADHS ein zweimal so hohes Sterberisiko wie gleichaltrige Menschen haben.

Fairerweise: „Nur“ etwa die Hälfte der Sterbefälle, die diese Studie untersuchte, waren Unfälle – weitere Gründe waren Substanzmissbrauch und Suizid. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass Substanzmissbrauch oft auch eine Art „Selbstmedikation“ für Menschen mit ADHS ist und Suizid meist im Zusammenhang mit Depressionen auftritt. Letztere entsteht nicht selten bei all denjenigen, bei denen ADHS erst spät diagnostiziert wurde – wie auch in meinem Fall.  So relativierend ist das „nur“ 50 Prozent Unfälle am Ende also auch nicht.

ADHS ist keine Ausrede, sondern eine Erklärung

Seit meiner ADHS-Diagnose verstehe ich viele meiner zuvor unerklärlichen Schwächen besser (übrigens auch die Stärken) und kann teilweise auch besser damit umgehen. Wer sich ein bisschen auf Social Media oder dem Internet zum Thema ADHS umschaut, stellt schnell fest, dass ich damit keine Ausnahme bin. Egal ob YouTube, TikTok, Instagram oder Twitter, Blogs oder Foren: Überall berichten Menschen mit ADHS, wie sehr ihnen die Diagnose die Augen geöffnet hat, über ihre „Charakterschwächen“, emotionalen Berg- und Talfahrten oder ihre einzigartige Betrachtungsweise der Welt. Denn wir Neurodiversen sehen und erleben die Welt tatsächlich anders als neurotypische Menschen. Nicht besser oder schlechter – anders.

Je besser ich das verstanden habe, desto mehr habe ich auch begonnen, offen damit umzugehen. Ich habe zum Beispiel ein Dating-Profil, in dem steht, dass ich ADHS habe. Ich spreche es bei meinem Orthopäden oder in der Physiotherapie an, wenn wieder der Ratschlag zu mehr Routine und weniger Stress kommt. Eine Begleiterscheinung von ADHS ist übrigens ein erhöhtes Stresslevel. Leider stelle ich bei meiner Offenheit immer wieder fest, dass die meisten Menschen – medizinisches Fachpersonal eingeschlossen – wenig bis gar keine Ahnung von ADHS haben. Und dass auch oft noch das Klischee einer ausgedachten Krankheit, um anstrengende Kinder ruhig zu stellen, vorherrscht.

ADHS ist keine Fantasiediagnose

Tatsächlich ist ADHS eine neurobiologische Störung – in unseren Gehirnen herrscht ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin – beide sind wichtig für die Weiterleitung von Reizen in den Nervenzellen. Mittlerweile wird in der Wissenschaft davon ausgegangen, dass ADHS-Patient:innen Dopamin fehlt und das wiederum führt dazu, dass die Informationsweiterleitung der Nervenzellen gestört ist. Das Resultat: Reize werden nur schlecht und unzureichend gefiltert, weswegen uns der „Hemmer“ fehlt, der Gedanken oder Reize sortiert. Deshalb springen wir oft gedanklich – auch in Unterhaltungen – vor und zurück, haben Probleme, Gedanken zu Ende zu führen und reagieren viel sensibler auf äußerliche Reize.

Diese Erklärung ist extrem vereinfacht dargestellt, aber sie zeigt: ADHS ist keine Fantasiekrankheit und auch keine psychische Störung – allerdings kann ADHS unbehandelt als Nebeneffekt psychische Erkrankungen, am häufigsten Depressionen und/oder Angststörungen, zur Folge haben. Wie bei mir. Das ist übrigens auch der Grund dafür, warum ich meine Geschichten über die 20-minütige Suche nach der Kaffeetasse erzähle. Öffentlich auf Social Media oder hier im Blog, in der Arbeit, im Freundeskreis und auch auf meinen Dating-Profilen. Weil ich immer die Hoffnung habe, dass das vielleicht jemand liest, der/dem es gerade so geht wie mir vor vier Jahren. Die/der einfach nicht in diese Welt passt und nicht versteht, warum.

Der Grund ist einfach: Du lebst in einer Welt, die nicht auf dich ausgerichtet ist und du wirst deshalb niemals wirklich hineinpassen. Aber das musst du auch gar nicht. Je eher du damit aufhörst, dich an dem zu messen, was neurotypische Menschen erwarten, desto eher kannst du deine Welt an deine Voraussetzungen anpassen.

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